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topografien des dazwischen
 
 
 
 

Volker Schunck

 

Topografien des Dazwischen, Transiträume des Imaginären

 

Annäherungen an das Schaffen von Peter Trachsel

 

 

Grenzüberschreitungen

 

         Wie ein roter Faden zieht sich eine Obsession durch die künstlerischen Avantgarden des 20.Jahrhunderts: die nach der Aufhebung der Grenzen von „Kunst" und „Leben". Und wir vermuten zurecht, dass mit dieser Grenzüberschreitung mehr eine Potentialität, eine Art Utopie gemeint ist, die von den einzelnen Avantgarde-Generationen jeweils neu anzustreben und zu definieren ist, an der sie sich reiben, auf die sie sich einlassen gleich einem osmotischen Prozess unterschiedlicher Flüssigkeiten.

Die Paradoxie dieses Austauschverhältnisses besteht gerade darin, dass die Dichotomien, die Gegensätze zwischen Kunst und Lebenswirklichkeit nicht nur letztlich unaufhebbar, sondern geradezu unabdingbare Vorraussetzung sind vergleichbar den entgegen gesetzten Polen eines elektrischen Feldes. So könnte man sagen, dass die Dichotomien von Kunst und Lebenspraxis ebenso viele Varianten und Wendungen generieren wie die Versuche diese durchlässig zu halten.

 

         Als „Entkunstung der Kunst" und als „Verfransung ihrer Demarkationslinien" hat Theodor W. Adorno  schon 1966 diese Tendenz ästhetischer wie anti-ästhetischer Prozesse charakterisiert[1]. . Diese begann aus kunsthistorischer Sicht an der Schwelle der Moderne mit der kubistischen Collage und der Integration von Gebrauchsmaterialien. Sie kulminierte erstmals in den dadaistischen Provokationen wie in den „Ready Mades" von Marcel Duchamp, der industrielle Massenprodukte als Werke der Kunst deklarierte und damit den „auratischen" Charakter der Unikate infragestellte. Erweist sich die Pop Art in den  60er Jahren als konsumistische Fortführung dieser Infiltration des Alltäglichen in den Raum des Ästhetischen, so sind es insbesondere die gleichzeitig sich in Paris formierende Nouveaux Réalistes, die Fluxus- und Aktionskünstler in Europa, Japan und den USA, die Duchamps anti-ästhetischen Impuls aufnehmen, um die Prozesse des Zivilisatorischen in die künstlerische Praxen einzubinden.[2] 

         Diese Reibung an den gesellschaftlichen, politischen und medialen Momenten urbaner Zivilisatorik hat die Avantgarden seit Beginn der 60er Jahren in ihren Produktionsformen, ihrem Selbstverständnis, ihrer Rezeption entscheidend verändert. Ausgesprochen und unausgesprochen in ihrer künstlerischen Praxis wurden teils bis heute wirksam Positionen wie:

- die Überschreitung und Vermischung („Hybridisierung") der künstlerischen Gattungen in kooperativer Praxis



[1] Theodor W. Adorno: Die Kunst und die Künste (1966), in: Ohne Leitbild

 

[2] Jürgen Schilling: Aktionskunst - Identität von Kunst und Leben?, Luzern / Frk.M, 1978, S. 80ff.

 




 

- die intermediäre und kontextuelle Dispositionen der Werke (Installationen, Environment)

- Partizipative Einbeziehung der Betrachter / Rezipienten

- Entstehung performativer, prozessorientierter Werkformen nbsp; (Happening, Aktion, Performance)

- Abwendung vom „auratischen" Unikat und Bevorzugung multiplizierter und reproduzierender Kunstformen (auch als Gegenstrategie kommerzieller Einvernahme)

 

         Es scheint mir unabdingbar in der Auseinandersetzung mit dem komplexen, facettenreichen Schaffen von Peter Trachsel diese Ausgangspunkte und Impulse zu skizzieren, um seine Arbeit mit den innovativsten Kunstströmungen des 20. Jahrhunderts zu verorten. Peter Trachsel zählt zu den wenigen Schweizer Künstlern, der im retrograden Kunstklima der 80er und 90er Jahre, das visionäre Potential der Fluxisten neu entdeckte und in vielen seiner Aktionen und Projekte weiterentwickelte.

         Man denke da an seine Anfänge als Performance- und Aktionskünstler seit Mitte der 70er Jahre, insbesondere an sein Lebenskunstwerk der Gründung derHasena 1981, dem „Institut für (den) fliessenden Kunstverkehr" sowie der Herausgabe der meist in wenigen Exemplaren zirkulierenden Zeitschrift VELENO, (s)einer Fliessbildkunstverkehrsschrift. Skepsis gegenüber den etablierten Institutionen wie den kommerziellen Galerien, den Wertungs- und Ausschliessungskriterien des Kunstgeschäftes wie die Überzeugung von selbst bestimmter Distribution, lässt ihn schon früh nach anderen Foren, nach anderen Orten und Kontexten, nach nicht erprobten Öffentlichkeiten suchen. Diese „anderen" Orte und Foren verstehen sich dabei nicht als Mittel und Vermittlung seiner Kunstprojekte, sondern sind deren inhärenter Teil.

 

         Nach der Geburt seiner Tochter Etna und seiner neuen Rolle praktizierter Lebenskunst als bald allein erziehender Vater lässt sich Trachsel 1987 im bünderischen Dalvazza nieder, das von nun, an der Peripherie der kulturellen Zentren, zum Wohnort und zur Drehscheibe seiner Aktivitäten wird. Und wir ahnen mit welcher Hartnäckigkeit, Überzeugung und obsessiver Hingabe er unter meist prekärsten finanziellen Unsicherheiten, Projekte anging, die im ländlichen, konservativen Milieu meist mit wenig Verständnis rechnen durften. Solches tut man nur, wenn die Sicht auf Outòpos, „the other side", immer wieder die Widrigkeit und Verschlungenheit der Existenz erhellt. Wenn pragmatisches Handeln im Alltagsleben das Visionäre nicht aus dem inneren Auge verliert, welches sich immer wieder mit Künstlerfreunden und Gleichgesinnten in Aktionen und Projekten reflektiert und sich in der Präsenz gemeinsamer Erfahrung erneuert. Oder wenn man nicht anders will und kann.

         Nicht zuletzt erstaunt die Tatsache, dass sowohl dieHasena wie die Zeitschrift VELENO seit mehr als 25 Jahren existieren und wie es scheint, vitaler denn je. Das ist mehr als selten, wenn man an ähnliche künstlerische Foren und Publikationen denkt, deren avantgardistischer Schub sich meist nur um den Preis der Kurzlebigkeit zu behaupten vermochte. Solches ist auf die Dauer nur denkbar, wenn man versteht, Strategien der Segelschifffahrt oder des Judokas ins Spiel zu bringen und wenn es dem Navigator gelingt, die Energie des Gegenwindes in Vortrieb zu wenden.

 

         Trachsels künstlerisches Selbstverständnis, soweit es seine intermediären,



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venetzenden, kooperienden Tätigkeiten und Projekte erhellen - wir vermuten es bereits aus dem wenigen, was gesagt wurde - hat die Herstellung von „Kunstwerken" als autonome, für sich existierende Artefakte hinter sich gelassen. Parallelen und Inspirationen für seine künstlerische Haltung lassen sich neben Fluxus unschwer mit dem „erweiterten Kunstbegriff" von Joseph Beuys in Verbindung bringen.  Seine Auffassung des künstlerischen Tun als einer „sozialen Plastik" basierte bekanntlich auf der Überzeugung, dass Kreativität in allen Tätigkeitsfeldern einer Gesellschaft das grösste Kapital des Menschen sei.[1] Letztlich aber auch, dass nur in der Kunst-als-Kunst Erfahrungen und Erkenntnisse möglich werden, die sich von denen anderer Erkenntnisformen genuin unterscheiden und weder ersetzbar noch austauschbar sind.

Ein kleiner Hinweis auf den Beuys-Impuls scheint mir auch der Name der HASENA mit dem Hasen als gemeinsamem „Totemtier", der mit seiner List des Hakenschlagens, seiner Fruchtbarkeit und Verletzlichkeit, die Attribute von Kreatur wie Kreativität konnotiert. Behauptete Beuys im Bestreben den Begriff der Kreativität auszuweiten, dass „jeder Mensch ein Künstler sei", so folgerte der amerikanische Fluxuskünstler Allan Kaprow, der Erfinder des Happening, im Umkehrschluss: „Jeder Künstler ist ein Mensch". Ich vermute, dass Peter Trachsel diese „fluxale", unpathetische Variante bevorzugt.

 

         Von Anfang an war dieHasena, ihre Tätigkeiten und Projekte auf interdisziplinäre Zusammenarbeit mit befreundeten und gleichgesinnten Künstler und Künstlerinnen, mit Grafikern, mit Autoren und Musiker angelegt. Ebenso versteht sich, dass jeder in Projekte involviert werden konnte und kann, sofern aktives Interesse und Teilnahme ins Spiel gebracht wird. DieHasena hätte weder die Vielzahl ihrer innovativen Projekte realisieren noch ihre Kontinuität aufrechterhalten können ohne die „Freunde derHasena", die als gemeinnütziger Verein mit unterschiedlichen finanziellen Beiträgen, mit Sach- und Arbeitsleistungen das „Fliessen des Institutes" ermöglichen.[2] 

         Weiteres zum Selbstverständnis der Hasena entnehme ich einer kleinen Broschüre dieHasena ist  (2006). Unter Punkt 2 ihrer Statuten, dem Zweck heisst es: „dieHasena, Institut für (den) fliessenden Kunstverkehr, ist unabhängiger Kunstraum, ein Salon, ein offenes Gästehaus, ein interdisziplinäres Experimentierlabor und ist an keinen geographischen Raum gebunden. Sie manifestiert sich in unterschiedlichen Umfeldern als öffentlicher Raum, in dem Versuchsanordnungen, Forschungsresultate und Visionen zur Diskussion gestellt werden. Sie ist eine Einladung zur Kooperation und Gradwanderung, sie mischt sich ein, zieht sich zurück


[1]

 (vgl. Josef Beuys: Das Kapital Raum 1970 - 1977, Installation, Halle für Neue Kunst, Schaffhausen)

 

[2]

  So wird man mit einem jährlichen Beitrag von SFR. 100.- Mitglied, erhält Informationen über alle Aktivitäten und ist berechtigt an der Generalversammlung teilzunehmen. „Förderer" wird man mit SFR. 1000.- jährlich und erhält neben den Mitgliedsrechten eine Orginalarbeit der beteiligten Künstlerinnen und Künstler. Zudem wird man zu dem jährlich stattfindenden „Verkehrsmahl" eingeladen.

 

 




 

und lässt offen." [1] 

                                                       

         Ein transportables Kastenmuseum, das an verschiedenen Orten in monatlichen Intervallen in privaten Wohnräumen aufgestellt wurde, war die erste Hasena- Aktion von 1981 - 1983 („Ausstellungsraum"). Die auf Augenhöhe einsehbare Ausstellungshalle (150 x 60 x 120 cm) reflektierte in der ironischen Miniaturisierung perspektivische Grössenverschiebungen (Alice im Wunderland) und verkehrte in der Raum-in-Raum Thematik das Verhältnis von Öffentlichem und Privatem. In der Untersuchung von Kontextsituationen des künstlerischen Ortes und seiner Perzeption war es der programmatische Auftakt einer ganzen Reihe späterer Projekte, die bis heute noch Themenfelder von Peter Trachsel und derHasena ausmachen.

         Auch der „einGriff in die Intimsphäre", eine in der Kunstszene fast schon legendäre Aktion (1983 - 1985), situiert sich in den Grenzverschiebungen und Verkehrungen von Oeffentlichem und Privaten, von ästhetischen und alltäglichen Kontexten sowie der Reflexion voyeuristischer Neigungen. Nacheinander wurden in Zürich, Chur, Schaffhausen, Winterthur in sechs bis sieben Wohnungen (die nicht soweit auseinanderlagen) von verschiedenen Künstler/innen  „Eingriffe" vorgenommen (u.a. von Barbara Krakenberger, Elisabeth Arpagaus, Jürg Egli, Thomas Zindel, Eva Ragaz, Ruedi de Crignis): „die intimsphäre wird für ein wochenende der öffentlichkeit zugänglich gemacht und verliert damit ihre qualität als rückzugsgebiet (..) die wohnung wird mitsamt der ausstattung teil der kunstaktion. am ende trifft man sich in der von peter trachsel eigens daür eingericheten und geführten beiz" (P.T.)[2] 

         Im Sommer 1989 startet er eine denkwürdige Reise der Langsamkeit („Zwischenlaute")[3]  von Dalvazza nach Schaffhausen mit vielen Zwischenhalten. Das Gefährt, das ihn und die vierjährige Etna transportiert, ist ein zweirädiger Traktor mit Anhänger. Man macht Station in den Dörfern und die Insel der Sirenen sind öffentliche Parkplätze. Auf dem Anhänger ist ein hochsitzartiges Gestell montiert auf dem gleichzeitig drei Personen Platz finden. Auf exponiertem Sitz hätte man sich einen Kopfhörer überstülpen und bis 30 Minuten einem Text von Birgit Kemper  lauschen können. Die Leute kamen nicht gerade in Strömen und vergaben, ausser den Kindern, in skeptischer Abwehr lieber die Möglichkeit auf den literarischen Hochsitz zu steigen als einer geheimen Neugier stattzugeben. Eine 42 tägige Odyssee durch literarische Wüsten? Don Quichote's Kampf gegen die Ignoranz? ein performatives Abenteuer zwischen Wohn- und Geburtsort oder eine nomadische Mythologie durch die Schweiz der 80er Jahre vergleichbar dem „Reisenden Krieger", dem wenig bekannten (Kult)Film von H. Schoch?

 



[1] Parallele Ansätze liessen sich auch  unschwer zur FIU aufweisen, der „Freien Internationalen Universität für Kreativität und Interdisziplinäre Forschung", die Beuys 1973 gründete und die mit ihren Workshops auf docmenta 6, 1977 in Kassel integraler Bestandteil der „Honigpumpe am Arbeitsplatz"  war. Vgl. Katalog, Josef Beuys, Kunsthaus Zürich, 1993, S. 259

 

[2]

 Vgl. auch Peter Killer: Tages-Anzeiger , 2. Dezember 1983, S. 38

 

[3] Vgl. Dokumentation des Projektes: VELENO Nr. 27, 1989 (Auflage 50 Ex.)

 



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         *

         Zur Begegnung mit Peter Trachsel kam es erstmals Ende der 80er Jahre, als der Schreibende als Kurator einer Gruppenausstellung im öffentlichen Raum die Gelegenheit hatte, P.T. zu einem Beitrag zur „Eisen 89" in Dietikon / Zürich einzuladen. In diesem Grossaufgebot Schweizer Eisenplastik realisierte P.T. eine dreiteilige Bodeninstallation, die sich durch ihre konzeptuelle Anlage entschieden vom Feld materialbetonter Skulpturen und Installationen abhob.

Am Ende des Marmoriweihers markierten drei tief in die Erde eingelassene Eisenplatten, die lediglich minimal sichtbar waren, eine eher spürbare Linie, die Weg, Wasser und Bachufer verband. In die Kimme der Chromstahlkrone war ein Goldfaden eingelassen. Assoziationen zur Mythologie  und Alchemie der Metalle und Elemente konnten sich einstellen wie auch subtil verschleierte erotische Anspielungen, die der anagrammatische Titel ins Spiel brachte („EIGRENILANIGAV")[1] .

Dass vermutlich die Arbeit noch heute im Erdreich eingelassen ist und vom Gras wohl längst überwuchert wurde, ist zumindest eine schöne Vorstellung und überlässt das Werk der Materie wie der Imagination.

 

         Zwei Jahre später bot sich mir erneut die Gelegenheit P.T. zu einem Ausstellungsbeitrag einzuladen: Für „Passagen - Skulptur in Bad  Ragaz" realisiert er 1991 im Parkgelände des Grand Hotel wiederum eine in den Boden eingelassene Eisenplastik, die kinetische Aspekte mit Akustischen verbindet. Sie ist eine Art „Erdglocke", deren „Klöppel" als ein langer, leicht durchhängender Eisenbalken auf zwei Rollen eines im Boden versenkten kastenförmigen Klangkörpers lagert.  Verschiebt man den „Klöppelbalken" mit einigem Kraftaufwand, so gibt er einen rollenden, metallischen Ton.[2] 

Noch in der Rückschau faszinieren Trachsels Installationen durch ihre ästhetische Intensität und die Sorgfalt ihrer Ausführung. Mehr noch wie die Durchdringung von Artefakt und Kontext Imaginationsräume des Sinnlichen wie des Mentalen öffnet.

 

         Nachhaltigen Eindruck machte mir auch das Projekt „Rumor", das im Sommer 2002 in Sta. Maria stattfand, zuoberst im abgelegenen Calanca-Tal. An jedem Haus der am Hang gelegenen 120-Seelen Gemeinde leuchtete eine monochrome Tafel in einer anderen Farbe: hellgrün, rot, hellblau, gelb, rosa, orange, usw. Alle Tafeln im Format 102 x 88 cm waren an der dem Burgturm zugewandten Hausseite angebracht. Jedem Haus war eine grundierte Tafel übergeben worden, die mit einer selbst gewählten „leuchtenden Farbe" bepinselt werden konnte. Wenn jemand dies weder konnte noch wollte, wurde es von den teilnehmenden Künstlern gemäss der getroffenen Farbwahl ausgeführt. Vom Turm aus erst erschloss sich die Totale, und in und um die Burggemäuer waren weitere Werke teilnehmender Künstler/innen präsentiert.[3] 



[1] Volker Schunck: Katalog „Perspektiven Schweizer Eisenplastik", 1989, S. 28

 

[2]

 Die Installation befindet sich noch heute im Park der „Grand Hotels" Bad Ragaz. Abbildung und Kommentar in: Katalog „Passagen - Skulptur in Bad Ragaz", 1991

 

[3] P.T., Projekt-Broschüre „Rumor" St. Maria, 2002

 



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Die komplexe Installation stimulierte den architektonischen Raum des Dorfes in den visuellen Rhythmen der chromatischen Partitur und machte ihn imaginär als synästhetisches Klangfeld („Rumor") erfahrbar. Es spricht für Trachsels künstlerische wie organisatorische Kompetenz, dass sich die Einwohner aufgrund der offenen konzeptuellen Vorgaben des Projektes je nach ihren Interessen und Möglichkeiten einbringen konnten als aktive oder passive Mitwirkende eines „Gesamtkunstwerkes" oder um mit Joseph Beuys zu sprechen als Akteure und Erlebende einer „sozialen Plastik".

 

Auf alle Projekte derHasena systematisch einzugehen oder sie bloss skizzenhaft ins Spiel zu bringen, würde den Rahmen dieses Textes überfordern; sie wären Gegenstand einer weiter gefassten (überfälligen) Buchpublikation. So sei im

folgenden zumindest auf die aktuellsten Vorhaben verwiesen.

 

Jüngste Entwicklungen derHasena

 

         Lange Jahre war das „Haus Barbara" in Dalvazza / Küblis (an der Durchgangsachse Klosters-Davos) die topographische Mitte derHasena-Aktivitäten. Jeder Winkel des älteren, unauffälligen Hauses wurde genutzt als Denklabor, Atelier, Wohnraum, Archiv, Bibliothek. Der Spiritus Rector wohnte und arbeitete dort mitsamt der Vielzahl seiner alter Egos, seinen Angestellten und Mitarbeitern, wie dem künstlerischen Inspirator, Kurator, Sekretär, Organisator, Buchhalter, Zeichner, Verleger, Typograph, Drucker, Kopist, Werber, Telefonist, Handwerker, Hausmeister, Gastgeber, Vater und wer-weiss-noch anderen unerwähnten Funktionsträgern.

         Seit kurzem erst hat das „Institut für den fliessenden Kunstverkehr" das Domizil gewechselt; So kann P.T. auf dem Gelände des Dalvazzer Holzbauunternehmens RUWA, einem Förderer derHasena, ein architektonisch bemerkenswertes Musterhaus aus Holz bewohnen, nicht allzu geräumig, aber von  innovativer Raum- und Funktionsaufteilung. Nicht auf Dauer -  was heisst das schon in einer postfluxistischen Kunst- und Lebenspraxis - doch zumindest bis der Entlastungstunnel der Dorfumfahrung ungefähr dort in den Berg stechen wird, wo jetzo dieHasena verortet ist. 

         Unmittelbar beim Haus ist ein weisser Schiffscontainer angelandet, der am 17. Dezember 2006 eingeweiht wurde und seitdem als Wissenslabor jedem Interessierten offen steht. In den Industriegesellschaften fungieren Container  nicht nur als universelle Transportmodule globalisierter Mobilität; sie stehen auch für temporäre Behausung von Bauarbeitern, bieten in Zeiten der Migration und der Marginalisierung der Unterschichten Notunterkünfte in katastrophischem Umfeld. Auch im aktuellen Kunst- und Ausstellungsbetrieb spielen Container seit den 90er Jahren eine zunehmende Rolle.[1]  Gibt es ein besseres Gehäuse für das Archiv derHasena als einen Schiffscontainer, um Intentionen und Visionen eines „Institutes für (den)


[1]

 Man denke etwa an die mobilen Wohncapseln und Module des Rotterdamer Kunst- und Architektenkollektivs um Joep van Lieshout. Vgl. Kunstforum International, Bd. 184, 2007, S. 157 ff.

 



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fliessenden Kunstverkehr" zeitgemäss zu verkörpern?

 

         Schwarze Lettern, weithin sichtbar, bezeichnen den Hasena-Container: Ort als Kunst  und  rote, mannshohe Ziffern korrigieren die normative Arithmetik zur Gleichung:

         1 + 1 = 1 (der ort + der nichtort = ein ort als kunst)

 

 

Wir treten ein: ein Stuhl, ein Arbeitsplatz, ein Fenster. Bücher, Zeitschriften, hunderte von Archivschachteln, geordnet in Platz sparenden, professionellen Schieberegalen. Es ist der Ort, der die langjährige Tätigkeit Peter Trachsels und der Hasena dokumentiert, der die Geschichten einer Vielzahl von Nichtorten (griechisch: ou-tòpos  = Nichtort, das Nirgendwo) aufzeichnet oder anders gesagt ihren Transfer in Projekte, die sich zu bestimmten Zeiten und an bestimmten Orten manifestiert haben oder noch darauf harren. Der Nichtort oder Outòpos ist das Revier des Hasen. Und im Umkreis des Outòpos gehen andere Gleichungen auf.[1] 

 

 Kunst die Wissen schafft

 

Der „erweiterte Kunstbegriff" und eine zunehmend interdisziplinäre Vernetzung der verschiedenen Wissens- und Forschungsfeldern in einer globalisierten, digitalen Informationsgesellschaft reflektieren sich in jüngster Zeit auch in einer ambitionierten Veranstaltungsreihe derHasena, die im Februar 2006 erstmals über die Bühnen ging.

         Unter dem programmatischen Titel  „Kunst die Wissen schafft", sind renommierte Kulturtheoretiker, Anthropologen, Urbanisten zu Vorträgen, Seminarien und Diskussionsrunden aufgeboten. Unter dem poetischen Motto „Das dichte Gewebe des dahinfliessenden Lebens" etwa referierte die Wiener Ingenieurin Kristina Ambrosch über Schwarzzelte der eurasischen Nomaden, die als mobile, „flüchtige Behausungen" eine Zeitlang auf dem Gelände der Hasena errichtet, auch einen inneren Konnex zur künstlerischen Praxis der Hasena herstellen.

 „Manchmal bewirkt eine winzige Verschiebung des Blickwinkels eine völlig veränderte Sicht, in der dieselben Dinge plötzlich etwas ganz anderes als bisher zu meinen scheinen. Zu solchen bedeutungsvollen Erweiterungen der Sicht versprechen die Begegnungen mit Kristina Ambrosch, Nold Egenter und Hans Joachim Hespos zu werden. Architektur und Musik werden zu Ausgangspunkten, mehr über das menschliche Unterwegssein zu erfahren."[2] 

 

         Samstag, 17. März 2007: Wir haben uns auf den Weg von Zürich in das Prättigau gemacht, um der Eröffnung eines Hasena-Projektes in Luzein beizuwohnen.


[1]

 ) vgl. hierzu den inspirierenden Text Raumreise  von Katrin Gantenbein , Hasena Publikation, 1997:

„Obwohl kein Verkehrsweg darum herumführt, gibt es einen Ort, an dem noch kein Tourist mit Pauschalarrangement je war: den Nichtort. Überall und nirgendwo, alles und nichts ist dieser Nichtort, zu dem es alle(s) hinzieht, selbst wenn das Fahren dahin mit einigen Gefahren verbunden ist. Das Naheliegendste und das Weitläufigste ist dieser Outòpos...."

 

[2] P.T., Kunst die Wissen schafft, Broschüre der Hasena, 2006

 



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Auf dem Gipfel des steilen Hügels, an dessen Flanke die Dorfkirche klebt, gewahren wir bald eine lichte, bogenförmigen Baute, die in ihrer schwebenden Halbtransparenz wie eine exterrestische Erscheinung anmutet. Die ausserordentlich elegante, mit weisser Blache umhüllte Spannkonstruktion, habe ursprünglich dem Dalvazzer Holzbauer Ruwa als Messepavillon gedient, erfahren wir in der Folge.

         Präsentiert wird im Pavillon eine komplexe, mehrteilige Computer-Installation „Sei Personaggi Part 2" der jungen Medien-Künstlerin Valentina Vuksic.  Ausgangspunkt ihrer Arbeit ist das gleichnamige Bühnenstück  Luigi Pirandellos „Sechs Personen suchen einen Autor„ von 1921. Sechs vernetzte, Uralt-Rechner ohne Gehäuse, figurieren auf den Bohlen des Pavillons als die Personen (!) des Theaterstückes. Mit ihrer bescheidenen Speicherkapazität von den Programmen überfordert, produzieren die Computer Textzeilen über umgekippten Monitoren und seltsam irritierende Geräusche. „Die Überbeanspruchung der Geräte führt zu Störungen, Ausfällen, unvorhersehbaren Ereignissen. Das Verhalten der Maschinen...ähnelt den Launen und Krisen der in Pirandellos Stück vorkommenden Menschen. Wo die Abläufe der Systeme zu zittern beginnen, kommen sich Mensch und Maschine am nächsten." [1] 

         Und während die gut zwei Dutzend Besucher dem Biswind trotzend, neugierig wie ratlos die Schrottcomputer umkreisen und hintersinnen, wird der archaische Hügel zur Schnittstelle von Magie und kollabierender High-Tech. Fabelhaft performt die Sängerin Kornelia Bruggmann eine Giacinto Scelsi-Partitur, umkreist die Trommel rührend den Hügel und verwandelt sich flugs in eine singende Baumfee, um sich zwischen den vier vergabelten Stämme einer Birke zu bergen.

Solche Erfahrungen sind kaum im neutralen „White Cube" urbaner Ausstellungsorte zu reproduzieren: sie verdanken sich dem Genius Loci wie den unwiederholbaren Konstellationen auf der temporären Bühne derHasena.

                                                                                             

Ausblick auf Outòpos: 14 Räume für die Kunst in den 14 Gemeinden des Prättigau

 

         Die Computer-Installation von Valentina Vuksic auf dem Hügel von Luzein war der exemplarische Auftakt zum Langzeitprojekt der „14 Räume", dessen Grundkonzeption darin besteht, dass in den 14 Ortschaften des Prättigaus jeweils ein Raum für künstlerische Projekte dauerhaft zur Verfügung steht.

Konkreter Anlass für das Projekt ist die geplante Umfahrung des Prättigau. Diese verspricht zwar die Ortschaften von der Plage des starken Durchgangsverkehrs nachhaltig zu entlasten; sie weckt jedoch auch Befürchtungen, dass damit das Tal ins touristische Abseits geraten könnte. Peter Trachsel nimmt diese sich abzeichnende Notwendigkeit einer Neu- und Umorientierung der Talschaft zum Anlass, die kulturelle Attraktivität des Prättigaus durch das ambitionierte Projekt auf lange Sicht hin aufzuwerten: „Ziel ist es, dass diese 14 Räume von der jeweiligen Gemeinde oder einer Privatperson, unentgeltlich zur Verfügung gestellt werden und die Gemeinden oder Privatpersonen sich an der Entwicklung der Räume erfreuen können. Die Räume


[1] Thomas G. Brunner, Hasena-Publikation zur Ausstellung „Sei Personaggi Part 2", 2007

 

 



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können und sollen zu einem unverzichtbaren Teil der Gemeinde werden und sich gegenseitig anregen."

         Das kulturelle Defizit des Prättigau über kein eigentliches Kulturzentrum zu verfügen, wird hier zum Ausgangspunkt eines Pionierprojektes, das künstlerisch innovative Vermittlungsarbeit mit demokratischen und lokalen Aspekten verbindet. Statt eines zentralen Kunsthauses solle ein dezentralisiertes, vernetztes Spektrum von „Kunstorten" entstehen mit der Chance, dass jede Gemeinde teilhaben kann und dass die Talschaft sich neuen geistigen und kulturellen Impulse öffnet.

Damit wäre auch für Durchreisende wie für Bewohner angrenzender Regionen ein Anreiz geschaffen, „die Umfahrungen zu verlassen und zu eigentlichen Reisenden zu werden, um das Werk über eine lange Zeit zu verfolgen. Die 14 Gemeinden (...) mit den 14 Kunsträumen, werden so real zum Ort als Kunst, dem Tal." [1] Eingeladene Künstlerinnen und Künstler könnten in diesen Räumen Installationen vornehmen, weniger um ein abgeschlossenes, „autonomes" Werk zu realisieren, mehr im Sinne eines kontinuierlichen Forschens „als Formulierung der ständig neu wahrnehmenden Reflexionen der materiellen Welt." Geht es doch darum, künstlerische Projekte als längerfristige Forschungsaufträge aufzufassen, die man metaphorisch etwa wie folgt beschreiben könnte: du baust deinem Zuschauer eine Welt auf, in der eben erstaunliche Sachen passieren, die er dann erlebt. Aber die er eigentlich konstruiert in seiner Idee, in seinen Gedanken, in denen die Löwen oder Elefanten plötzlich verschwinden...

         Die Utopie streift die Realität. Der Anfang ist gemacht. In Luzein soll - nach allerneuster Information - der erste Raum zur Verfügung stehen.

 

OSPITI oder stellen Sie sich vor, einE KünstlerIn sitzt täglich an Ihrem Tisch...

 

         Eng verwandt mit der lokalen Ausrichtung der 14 Räume ist auch das Hasena-Projekt Ospiti, das erstmals 2003 im Prättigau stattfand. In diesem kulturanthropologischem Experiment mit offenem Ausgang ging es weder um Kunst, ihre Orte, noch ihre Vermittlung, sondern um direkte  Begegnungen von Künstlerinnen und Künstlern mit Bewohnern der Region. "In völliger Freiheit wie gern gesehene Gäste" waren sechs Kunstschaffende während eines Monats bei Gastfamilien eingeladen, um im gemeinsamen Erleben von Alltagssituationen unvorhersehbare Erfahrungen zu machen im Austausch und der Wahrnehmung „zwischen dem Einheimischen und dem Fremden und dies in allen Schattierungen wie dem Verhalten, der Sprache, dem Handeln, des Ausdrucks u.a. (...)

         Stellen Sie sich vor einE KünstlerIn sitzt täglich an Ihrem Tisch und will auch noch an Ihren Mahlzeiten teilhaben. Möglicherweise beginnt er/sie auch noch ein Gespräch mit Ihnen...

Und vielleicht spricht er/sie auch mit Ihren Nachbarn, und eines Tages sind die Dinge nicht mehr so wie sie waren. Was ist geschehen?"[2] 



[1]

 Peter Trachsel, Grobkonzept „14 Räume..."

 

[2]

 Peter Trachsel, Webpublikation, 2007

 



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Das Ospiti-Projekt, über das lange gesprochen wurde und das weite Kreise gezogen hat, findet vom 3. Juni - 1.Juli 2007 seine Fortsetzung an vier Orten des Prättigaus: Der Schweizer Komponist Jürg Frey wird in Stels, der „Wolkenspaziergänger" Gerhard Lang (D) in Fideris, der Schriftsteller Hans Raimund (A)  in Küblis, die Multimedia-Künstlerin Angelika Böck in Saas zu Gaste sein. Zudem ermöglichen öffentliche Spaziergänge und wöchentlicher Stammtisch im Nomadenzelt der Hasena Begegnung und Teilnahme weiterer interessierter Kreise.

 

                                                        *

         Facit: Die langjährigen Tätigkeiten derHasena im Sinne eines offenen Ideenlabors, das an der Peripherie der kulturellen Zentren künstlerische Experimentierfelder mit interdisziplinären Dialogen verknüpft, dürfte in der helvetischen Kulturlandschaft ohne Beispiel sein. Dank der Unterstützung eines in der Region verankerten Förderkreises, den „Freunden derHasena" wird ihre institutionelle Unabhängigkeit und ihre nicht-kommerzielle Ausrichtung gewährleistet.

Für dieHasena ist ebenso bezeichnend, dass sie keine Berührungsängste kennt und in ihrer Vermittlungsarbeit mit langem Atem Kontakte zur Region und der lokalen Bevölkerung aufbaut. Für das Prättigau, so Beat Stutzer, Direktor des Bündner Kunstmuseum, öffne dieHasena eine Chance „auf einen dezidierten kulturellen Austausch zwischen Zentrum und Peripherie, zwischen Land und Stadt, wobei auch der Einbindung der einheimischen Bevölkerung grosses Gewicht beigemessen wird."

 

                                                                                              VS. 19 / 4 / 07




 

 
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